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27. April 2011

SchülerInnen des Lycée Victor Hugo zur „Grünen Schule“

Gesamtschule_EuropaEs gehört zu den angenehmen Aufgaben eines Abgeordneten, SchülerInnen aus dem In- und Ausland das Parlament zu zeigen. Hie und da entwickelt sich daraus schon im Vorfeld eine spannende inhaltliche Diskussion. So haben mir heute SchülerInnen des „Lycée Victor Hugo“ in Besançon den unten stehenden Brief geschickt, den ich gerne hier zur Diskussion stelle (ich selbst möchte ihn heute noch unkommentiert so stehen lassen):

„Sehr geehrter Herr Doktor Walser,
wir haben Ihr Programm für eine „Grüne Schule“ in der Klasse studiert und meinen, dass es interessant ist. Wir sind nämlich selbst Schüler und möchten Ihnen unsere Meinung über Ihre Ideen sagen.
Sie wollen die Schule ändern, und das ist gut. Aber wir denken, dass man über die Vorteile und die Nachteile ihrer Vorschläge debattieren muss.
Zuerst möchten wir mit Ihnen über die Gesamtschule für alle Sechs-bis Vierzehnjährigen reden. Sie wissen sicher, dass es in Frankreich diese Gesamtschule gibt.
Wir denken alle, dass man mit zehn Jahren zu jung ist, um zu verstehen, wie das Schulsystem und die Arbeitswelt funktionieren. Die Kinder haben keine Zeit, sich selbst kennen zu lernen. Also entscheiden die Eltern, wer in welche Schule geht. Es besteht keine Chancengleichheit, und die Noten der Volksschule können nicht entscheidend dafür sein, wer später gut lernen wird.
Trotzdem sind wir nicht ganz für und nicht ganz gegen die Gesamtschule. Sie ist keine gute Lösung für die Kinder, die keine Lust haben, in der Schule zu arbeiten. Viele Schüler wollen nicht mehr lernen. Sie interessieren sich nicht für die Schulfächer, sie wollen schneller eine berufliche Ausbildung machen und Geld verdienen, sodass sie nicht so lang bei den Eltern leben müssen.
Wir sind untereinander nicht darüber einverstanden, in welchem Alter man entscheiden soll, ob man nicht mehr in die Schule geht. Aber die meisten denken, dass man es mit dreizehn Jahren wissen kann.
Einige von uns denken auch, dass die besten Schüler in einer Gesamtschule nicht in ihrem Rhythmus lernen können und auf die anderen warten müssen. Sie langweilen sich, weil sie mehr lernen könnten. Und andere denken, dass „homogene“ Klassen besser sind.
Ihre zweite Idee ist eine Ganztagsschule. Wir hoffen, dass Sie wissen, dass es in Frankreich die Ganztagsschule gibt. Unsere Meinungen darüber sind sehr verschieden.
Viele von uns denken, dass die Ganztagsschule eine schlechte Idee ist. Ein ganzer Tag in der Schule, mit sehr viel Unterricht, dauert sehr lange, zu lange für Kinder und Jugendliche. Ein ganzer Tag in der Schule ist schwer zu ertragen, vor allem, wenn man im Internat lebt. In Frankreich haben die Schüler zu viel Arbeit an einem Tag. Wir würden lieber in die Schule gehen, wenn die Tage kürzer wären.
Eine Ganztagsschule mit unterschiedlichen Aktivitäten ist besser, aber diese Aktivitäten werden nicht alle Schüler interessieren. Sport, Musik, Kunst und Erholung sind persönliche Aktivitäten. Wenn diese Aktivitäten in der Schule stattfinden, organisieren die Jugendlichen ihren Tag nicht, wie sie wollen. Sie treffen auch keine anderen Personen als ihre Mitschüler.
Aber einige von uns finden das System der Ganztagsschule gut. Es ermöglicht, lange Ferien zu haben. Sie denken, dass die individuellen Lernphasen in der Schule stattfinden sollen, weil sie Hilfe brauchen.
Das Beste wäre vielleicht eine fakultative Ganztagsschule: Schüler, deren Eltern den ganzen Tag arbeiten, die Hilfe brauchen oder die Lust haben, können in der Schule bleiben, und die anderen können nach Hause gehen. Es ist für uns wichtig, eine richtige Freizeit zu haben.
Aber der Punkt, über den wir am meisten gestritten haben, ist eine Reform der Pädagogik. Eine Schule ohne Noten gefällt uns. Die Schüler würden keine Angst haben. Sie würden für sich selbst arbeiten und nicht für die Noten. Viele Schüler haben Kompetenzen, aber sie haben keine guten Noten, weil sie gestresst sind, wenn sie eine Schularbeit schreiben. In einer solchen Schule eignen sich die Schüler mehr Verantwortung, Autonomie und Solidarität an.
Aber wir denken fast alle, dass eine Schule ohne Noten schwer zu realisieren, ja fast utopisch ist. Die Noten motivieren die Schüler. Wenn wir keine Noten und keine Konkurrenz haben, arbeiten wir nicht. Die meisten Schüler würden nur in ihren Lieblingsfächern lernen. Außerdem wollen die Eltern informiert werden, wie ihre Kinder arbeiten, und am Ende der Schulzeit brauchen wir ein Diplom mit Noten.
Ein individuelles Lerntempo ist zwar eine gute Idee, aber wenn es vier oder fünf verschiedene Niveaus in einer Klasse gibt, und jeder Schüler etwas anderes macht, ist die Klasse keine Klasse mehr. Dieses System wäre sehr schwer für den Lehrer. Er muss alles kontrollieren und sich um die verschiedenen Gruppen kümmern. Es ist leichter, Klassen mit einem homogenen Niveau zu machen. Dieses System wäre nicht billig, weil es viel mehr Lehrer braucht, und wir denken, dass der Staat wie in Frankreich nicht das nötige Geld geben wird.
Wir hoffen, dass Sie unsere Meinungen verstehen und interessieren werden.
Mit freundlichen Grüßen,
die Deutschschüler der Première (11. Schulstufe) des Lycée Victor Hugo (Besançon): Laure-Line Blateyron, Cécile Boucher-Boucard, Léa Bourdier, Julie Brusseaux, Théo Clément, Nicolas Deloule, Louis Duquet, Anaïs Grillon, Sarah Guinchard, Joris Harraga, Merryl Lamotte, Stéphen Moglia, Elodie Paupe, Marion Philippe, Emilie Puchot, Julie Roullot, Arnaud Scherrer, Nausicaa Walbron“
Soweit die französischen SchülerInnen. Kompliment übrigens an sie für Ihr Engagement und ihr sehr gutes Deutsch (das geht natürlich auch an ihren Lehrer und meinen ehemaligen Schüler Christian Jehle). Für uns alle im Bildungsbereich Engagierte - und das geht aus diesem Brief auch deutlich hervor - gilt: „Kein Kind zurücklassen!“

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